Of Cabbages and Kings — Ensemble und Individualität

Das Klangerlebnis ist überwältigend. Vier junge Jazz-Sängerinnen, bestens ausgebildet in Wien, Boston, Berlin, Kopenhagen und Köln, verbinden ihre Stimmen zu einem A-Capella-Quartett der besonderen Art. Sie singen auf Augenhöhe, getragen von gegenseitigem Respekt und Zuneigung, mal polyfon, mal homofon, mal melodiebetont, mal perkussiv, nuancenreich, fragil und doch stets wie aus einem Guss. Das Zusammenspiel von Ensemble und Individualität hat etwas Magisches.

Die Wirkung ist umso beeindruckender, weil „Of Cabbages and Kings“ (wie sich die  Sängerinnen in Anlehnung an das Gedicht „The Walrus and the Carpenter“ von Lewis Carroll nennen) mit so unangestrengter Leichtigkeit daherkommt. Man kennt das aus alten Hollywood-Musicals, wenn perfekt aufeinander abgestimmte Sänger oder schwebend elegante Tänzer auftreten. Die aber hatten stets die Instanz des Filmschnitts, um etwaige Erholungspausen oder Fehler zu verbergen, was für einen Auftritt von „Of Cabbages and Kings“ undenkbar ist. „Wir haben alle vier in der Zeit beim Bundesjazzorchester und danach bei eigenen Proben intensiv gearbeitet“, erzählt Laura Totenhagen. „Dass es so mühelos werden konnte, war ein organischer Prozess. Wir haben sehr, sehr viel gefeilt, aber irgendwann geht man dann einen Schritt zurück und blickt entspannter auf das Ganze.“

Laura Totenhagen, Veronika Morscher, Rebekka Ziegler und Sabeth Pérez gründeten „Of Cabbages and Kings“ im Oktober 2015. Da kannten sie sich schon aus dem Vokalensemble des Bundesjazzorchesters, wo sie u.a. an dem ambitionierten Projekt „Groove and the Abstract Truth“ von Niels Klein beteiligt waren, der Gesang mal klassisch, mal ganz anders, eher instrumental einsetzte. „Da waren Formen des Gesangs möglich, die es in konventionelleren Formationen nicht gab“, erinnert sich Laura Totenhagen. „Wobei ich zuvor keinerlei Erfahrungen mit dem Singen hatte, ich war in keinem Chor, hatte als Oboistin viel Orchesterarbeit durchlaufen. Aber die Arbeit war etwas Besonderes, und deshalb ist es immer weiter gegangen mit unseren Gedanken: Wie verstehen wir ein Vokal-Ensemble? Was gibt es bereits, was kann man neu entwickeln? Das, was sein kann.“

Laura Totenhagen studierte an der Hochschule für Musik und Tanz Köln Jazzgesang und gründete das Quartett „Totenhagen“, das 2015 im Kölner „Loft“ seine erste CD „Foliage“ einspielte: eine mal mitreißend konkrete, mal sphärische, stets nach allen Seiten offene und doch eindrucksvoll konsistente Quartett-Einspielung mit Felix Hauptmann (Piano), Stefan Schönegg (Kontrabass) und Leif Berger (Schlagzeug). Soeben erschien die zweite „Totenhagen“-CD, „Yonic“, die ausschließlich aus Eigenkompositionen besteht: „Yonic ist das Adjektiv des tantrischen Begriffs Yoni, der in der Gedankenwelt der vier Musiker vorrangig als Klang/Quelle/Ursprung/Schöpfung eine Bedeutung erhält. Es geht in dem Album um die Stellung des Menschen in der Gesellschaft, um Illusionen und Alltäglichkeiten und, ja, um die Sichtbarmachung und Überwindung gegensätzlicher Prinzipien.“ (Klaeng Records)

Von der Singer-Songwriterin Veronika Morscher aus Österreich erschien bereits 2014 in den USA ihre Debüt-CD „My Heart on A String“, eine federleichte, präzise Melange aus Jazz, Folk, Songwriting und kammermusikalischer Finesse (mit Streicherquartett). In diesem Jahr (am 31.5.2019) wurde sie mit dem ersten Förderpreis des Jazzfests Bonn geehrt: „Veronika Morscher geht mit eigenwilligen gestalterischen Vorstellungen und gewaltiger Musikalität an ihre Projekte heran“, lobte die Jury. Nach Stationen in Boston und Wien lebt die Bregenzerin nunmehr seit langem in Köln, wo sie ebenfalls an der Hochschule für Musik und Tanz studierte.

Rebekka Salomea Ziegler studierte hier Jazz- und Popgesang, auch sie komponiert und schreibt, 2018 entstand das erste Album ihrer Band „Salomea“ – eine der bestaunenswertesten Kölner CD-Einspielungen der jüngsten Zeit, die nicht annähernd in Schubladen wie „Jazz“ oder „Pop“ passt, vielmehr einen gänzlich eigenständigen Sound erfunden hat: eine Klang-Collage aus Stimme, Gitarrenteppichen, Elektronik, einem Schuss HipHop und vielen feinen Details, vor allem aber einer mitreißenden, treibenden Power, der man sich nicht entziehen kann. Zu den „Klangpionieren“ neben der Sängerin gehören Yannis Anft (Keyboards), Oliver Lutz (Bass) und Leif Berger (Schlagzeug).

Die Deutsch-Argentinierin Sabeth Pérez ist eine Grenzgängerin zwischen den Kulturen, zwischen Jazz und Kammermusik; mittlerweile hat sie das Quartett verlassen, ihre Nachfolgerin wurde Zola Mennenöh. Die im Jazz und in der Klassik verwurzelte Vokalistin, Komponistin und Keyboarderin spielte ebenfalls bereits mit vielen Jazz-Größen, hat diverse Solo- und Duo-Projekte und konzipierte mit „Zola“ und „Zola Run“ eigene Quartette. Betörend entfaltet sich beispielsweise ihre reine, klare Stimme in der sphärischen Ballade „Sirens“ (zu hören auf ihrer Website) und weckt die Vorfreude auf ihre demnächst erscheinende Debüt-Solo-CD „Longing for Belonging“, auf der sie Nicole Hogstrand (Viola da gamba), Johanna Borchert (präpariertes Klavier) und Szymon Gasiorek (Schlagzeug) begleiten.

Veronika Morscher. Zola Mennenöh. Rebekka Ziegler. Laura Totenhagen. Was diese vier entdeckerfreudigen Sängerinnen in der Konstellation „Of Cabbages and Kings“ miteinander verbindet, ist ihre singuläre Art, Musik ins Verhältnis zu Liedtexten, Lyrik und Poesie zu setzen. Ob Shakespeare-Sonette, Cover-Versionen von Laura Mvula und Hanne Hukkelberg oder Arrangements nach Bert Brecht: Die wunderbaren Stücke auf ihrer CD „Aura“ (2018) lassen sich mit „New Vocal Jazz“ nur bedingt fassen, weshalb die Sängerinnen den Begriff „Neo-A-Capella“ wählten. Idealtypisch ist ihre Vertonung des Gedichts „Rezept“ von Mascha Kaléko (1907-1975), in dem es heißt: „Sei klug und halte dich an Wunder. Sie sind lang schon verzeichnet im großen Plan.“ Die Dichterin Kaléko zählte in den 1920er-Jahren zur künstlerischen Avantgarde Berlins, ihre Texte wurden von Stars wie Claire Waldoff und Rosa Valetti gesungen; Jahrzehnte später ehrten sie Hanne Wieder und Rainer Bielfeldt, und nun ermöglicht „Of Cabbages and Kings“ „Rezept“-Fassung (aus der Feder von Rebekka Ziegler) eindrucksvoll eine Neubegegnung.

Vorbilder für das Gesangsquartett gibt es hier und da, etwa in Donald Byrds „Band & Voices“-Projekt von 1963, das freilich tief in der amerikanischen Gesangstradition wurzelt; spezifisch europäische Vorbilder sind die experimentelle Frauen-Gesangsformation „Trondheim Voices“ sowie der legendäre „Vocal Summit“ mit den Sängerinnen Urszula Duziak, Norma Winston, Jay Clayton und Michèle Hendricks. Die sangen einst eine A-Capella-Version von Charlie Hadens „Conference of the Birds“, was Laura Totenhagen 2015 zum ersten eigenen Arrangement anregte. Haden wiederum hatte sich von den Vögeln inspirieren lassen, die morgens vor seinem Apartment zusammenkamen, um sich in ihre Gesänge zu steigern.

Was ein schönes (Sinn-)Bild ist, auch für die Reise der vier Sängerinnen, die noch lange nicht abgeschlossen ist. Das Fundament ist ihr Vertrauen zueinander. „Das war von Anfang an vorhanden“, betont Laura Totenhagen. „Ich habe beim Komponieren nie daran gedacht, dass etwas zu schwer zu singen sein könnte. Alle sind bereit, alles auszuprobieren, und dann zu schauen, was daraus wird.“ Bei ihrem neuen Programm, das komplett aus eigenen Texten und Kompositionen besteht, hat das Quartett niemand anderer als Theo Bleckmann beraten. Totenhagen: „Wobei auch hier die Frage ist, wie man Musik ohne Klischees schafft, möglichst wach und neuartig, um die Dinge zu interpretieren.“

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Ein Portrait von Horst Peter Koll

Horst Peter Koll schreibt seit vielen Jahren über Film und Kino, war Chefredakteur zweier Filmmagazine und engagiert sich vor allem auch für den Kinder- und Jugendfilm, aktuell als Kurator beim Online-Portal filmfriend.de. Dem Jazz folgt er inzwischen seit einem halben Jahrhundert, veranstaltete mitunter selbst Konzerte und schreibt gerne über junge wie alte, renommierte wie neue Musikerinnen und Musiker, vorrangig im "Kölner Stadt-Anzeiger".