Hendrika Entzian: A Question of Balance – Vom Jazz-Quartett zur aktuellen Big Band


Das Cover von Hendrika Entzians zweiter Quartett-CD „Pivot“ ziert die schöne Zeichnung eines Mobiles (Artwork: Hannah Opitz). An dessen Enden baumeln die fünf Buchstaben des CD-Titels, und kreisende weiße Pfeile deuten an, dass sie sich im Raum bewegen, teils auch in entgegengesetzte Drehrichtungen. Unruhe entsteht dadurch freilich nicht, im Gegenteil: Es vermittelt sich eher die Balance eines fein austarierten Gebildes, und gerade die Bewegung im Raum gibt der Konstruktion erst ihren inneren Halt.

Nun ist Hendrika Entzian keine kinetische Künstlerin, sie ist leidenschaftliche Jazz-Musikern, spielt Kontrabass, komponiert und vor allem: Sie arrangiert, mittlerweile sogar für den ganz großen Klangkörper, vorrangig ihre eigene brandneue Big Band „Hendrika Entzian+“. Dennoch ist das Dreidimensionale auch für sie von Bedeutung: „Ich mag Musik, die Raum hat“, sagt sie, und gerade das große Ensemble bietet ihr dafür eine üppige Spielwiese. Das virtuose Zusammenwirken von 18 Musikerinnen und Musikern in ihrem brandneuen Ensemble „Hendrika Entzian+“ folgt auf ganz erstaunliche Weise der Wirkungsweise eines Mobiles, erweist sich als beweglich und drehbar, als elegant und lebhaft zugleich.

Nicht alles, aber vieles begann im Jahr 2012. Drei Jahre zuvor war die 1984 in Kiel geborene Musikerin nach Köln umgezogen und wechselte nun vom Musikstudium in Hamburg an die hiesige Hochschule für Musik und Tanz. Inzwischen hat sie dort das Masterstudium Jazz-Arrangement und -Komposition absolviert und ist selbst als Lehrbeauftragte tätig. Ebenfalls 2012 gründete sie ihr Quartett, das bis heute verlässlicher Fixpunkt ist und sich als freie Experimentierwerkstatt im Rahmen vertrauter Mitmusiker erweist. 

Derzeit sind dies der Pianist Simon Seidl, der Schlagzeuger Fabian Arends und der irische Saxofonist Matthew Halpin, dessen ganz besonderer Klang immer wieder neu aufhorchen lässt. Ausgehend von stimmungsvoll-melodiösen Grundlinien, variiert das Quartett sein Material immer wieder anders, sodass ein Song nie wirklich derselbe Song ist. „Grundsätzlich“, sagt Hendrika Entzian, „stellen die Kompositionen Grundgerüste dar, die von jedem Musiker in die eine oder andere Richtung gelenkt werden können.“

Ein Beispiel dafür ist das balladeske Stück „Périphérique“, ein atmosphärisch betörendes Stimmungsbild, zu dem sich die Komponistin durch eine nächtliche Autofahrt auf der Stadtringautobahn um Paris inspirieren ließ. Nun weitete sie das Thema für die große Formation, und man kann nur staunen, welche neuen Klangnuancen dabei zutage treten. Die Big-Band-Version, die erstmals am 31.1.2019 im Rahmen eines Konzerts beim WDR 3 Jazzfest in Gütersloh aufgeführt wurde, ist alles andere als ein behäbiger Reisebus oder LKW: Sie präsentiert sich vielmehr als nahezu schwerelos schwebendes Fortbewegungsmittel, das einem zahlreiche impressionistische Assoziationen zum funkelnd beleuchteten Stadtpanorama erlaubt.

So öffnet sich die offene, quasi „basisdemokratische“ Interaktion des Quartetts auf höchst spannende Weise zum vergleichsweise disziplinierten Big-Band-Sound, dessen unverwechselbare Tonalität sich von der US-amerikanischen Arrangeurin Maria Schneider inspiriert zeigt. Zugleich entstehen im mal feinen, mal kraftvollen Spiel weit größere Freiräume für die Improvisation. 

Schon länger schreibt Hendrika Entzian für große Formationen (etwa für das Metropole Orkest in Hilversum), nun konnte sie für ihre eigene Big Band auf hochkarätige Weggefährten zurückgreifen. Beim Premierenkonzert in Gütersloh kamen zu den Quartett-Kollegen Musikerinnen und Musiker aus ihrer Hamburger Zeit (Sandra Hempel an der Gitarre), aus dem Subway Jazz Orchestra in Köln sowie aus der WDR Big Band (Andy Haderer an der Trompete). Vor allem auch die grandiosen Tenorsaxofonisten Matthew Halpin und Sebastian Gille setzen Akzente, wobei ihre expressiven solistischen Ausflüge elegant durch melodiöse Orchesterpassagen geerdet werden.

Wer den fulminanten Premierenauftritt in Gütersloh verpasst hat, darf sich auf die erste CD von „Hendrika Entzian+“ freuen. Hendrika Entzian ist jedenfalls inzwischen in Köln verwurzelt, sie schätzt die Stadt ebenso wie den Zusammenhalt der vielen hier ansässigen Musikerinnen und Musiker. Daraus resultiert ein tragfähiges kreatives, auch kulturpolitisch reges Netzwerk, gefestigt durch „Leuchttürme“ wie die Kölner Jazzkonferenz und die Hochschule für Musik und Tanz sowie Kollektive wie „Klaeng“ oder „Impakt“. Kaum einer der vielen Einflüsse geht dabei verloren, dient vielmehr zu neuer Inspiration und Klangsuche.

Um noch einmal auf das Bild des Mobiles zurückzukommen: Einst hatte der US-amerikanische Bildhauer Alexander Calder (1898-1976) dieses federleichte kinetische Gebilde als Kunstform zur Perfektion gebracht und darüber geschrieben: „Wenn alles klappt, ist ein Mobile ein Stück Poesie, das vor Lebensfreude tanzt und überrascht.“ Und genau dies gilt auch für die lyrisch-energetische Musik von Hendrika Entzian.

Nächstes Konzert: 
Big Band Hendrika Entzian +, 5.11., HfMT Köln

Das Gespräch mit Hendrika Entzian führte Horst Peter Koll.

Horst Peter Koll schreibt seit vielen Jahren über Film und Kino, war Chefredakteur zweier Filmmagazine und engagiert sich vor allem auch für den Kinder- und Jugendfilm, aktuell als Kurator beim Online-Portal filmfriend.de. Dem Jazz folgt er inzwischen seit einem halben Jahrhundert, veranstaltete mitunter selbst Konzerte und schreibt gerne über junge wie alte, renommierte wie neue Musikerinnen und Musiker, vorrangig im "Kölner Stadt-Anzeiger".